Levinas: «Ethik als Erste Philosophie» erscheint auf Deutsch (2024)

Der französische Denker Emmanuel Levinas entwickelte eine Moral, die zur Schonung des Mitmenschen führen sollte. Ein später Vortrag zeigt nun, wie die jüdische Theologie seine Ethik prägte.

Peter Strasser

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Den Text «Éthique comme philosophie première» hat Emmanuel Levinas 1982 in Löwen, Belgien, als Vortrag gehalten. Nun ist er erstmals auf Deutsch – «Ethik als Erste Philosophie» – herausgebracht worden, sorgfältig ediert und versehen mit einem Glossar, das die zentralen Begriffe des Textes penibel erläutert.

Im Gesamtwerk von Levinas handelt es sich, trotz der Kürze der Darlegung, um ein spätes Schlüsselwerk des epochalen französischen Denkers, der bereits 1995 starb. Der kompetente Übersetzer, Gerhard Weinberger, spart in seiner allgemeinen Charakterisierung dessen, was Levinas’ Vortrag auszeichnet, nicht mit Superlativen. Es werde die Geschichte der europäischen Philosophie von einem «radikalen, bisher unerhörten Gesichtspunkt aus neu beleuchtet». Zugleich würden die Stereotypien des abendländischen Räsonnements nicht nur infrage gestellt, sondern grundsätzlich neu aufgerollt. Warum? «Um die Möglichkeit eines gänzlich anderen, vielleicht ‹menschlicheren› Ausgangspunkts dieses Denkens zu skizzieren.»

Emmanuel Levinas wurde 1906, noch zur Zeit des Kaiserreichs, im russischen Kaunas (Gouvernement Kowno) als Sohn eines jüdischen Ehepaares geboren. Sein Vater war Buchhändler und als solcher im religiösen Schrifttum seines Volkes ebenso belesen wie in der russischen Literatur. In den 1920er Jahren studierte Levinas Philosophie in Strassburg, später in Freiburg. Dort begegnete er sowohl der Phänomenologie Edmund Husserls als auch deren Fortführung und beanspruchter Überwindung durch Martin Heidegger. Dieser forderte in seinem Hauptwerk «Sein und Zeit» (1927), über den Humanismus und die philosophische Klassik hinaus- und bis auf die vorsokratische Spekulation zurückzugehen.

Suche nach Wahrheit

Der Ausdruck «Erste Philosophie» leitet sich zwar von Aristoteles her, welcher darunter vor allem die Lehre vom Sein und von der ersten Ursache – dem «unbewegten Bewegenden», Gott – verstand. Aber bei Heidegger wird daraus die Forderung, sich noch hinter die aristotelische Metaphysik zurückzubewegen. Denn einzig in einem Bedenken des Seins, das nicht mehr das menschliche Mass in den Mittelpunkt rücke, könne – paradox gesprochen – der Mensch zu sich selbst finden.

Dem entsprach die Phänomenologie, an der sich Heidegger «abarbeitete», insofern als sie eine Freilegung des Wesens der sinnlichen und geistigen Phänomene anstrebt, und zwar durch die Enthaltung (epoché) von allen zeit- und situationsbedingten Verengungen des menschlichen Urteils. Entsprechend wird die «antihumanistische» Tieferlegung des Humanismus zwar zum zündenden Funken für Levinas; doch woran dieser festhält, ist gerade die Pflege und Fortentwicklung einer Tradition, wie sie für die abendländische Kultur bis zum Beginn der Postmoderne typisch ist: die Suche nach einer existenziellen Wahrheit, in deren Zentrum der Mensch steht, realpräsent im «Antlitz des Anderen».

Demgegenüber werden im postmodernen Dekonstruktivismus alle Eckpfeiler des klassischen Weltbildes, zumal das Gute und das Absolute, als Ausdruck eines soziokulturellen «Narrativs» samt den ihm entsprechenden Herrschaftsformen und ihren totalitären Ideologien entschleiert. Die humanistische Vorstellung vom Menschen, heisst es am berühmten Ende von «Les mots et les choses» (1966) bei Michel Foucault, werde verschwinden «wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand».

Nicht so bei Levinas. Er leistet dem dekonstruktiven Furor beharrlich Widerstand. Seinem frühen Hauptwerk «Totalité et Infini» (1961) entsprechend, ist es primär das Gesicht des Menschen in seiner physiognomischen Tiefe und Untiefe, welches ein rechtes Verstehen davon ermöglicht, was Sein und Nichtsein, Leben und Tod im ethischen Kontext bedeuten. Der Ideengeschichtler Mathias Schreiber hat es auf den Punkt gebracht: Die eigentliche Würde erlange das menschliche Ich, «wenn es ‹Verantwortung für den anderen Menschen› übernehme. Dazu werde es berufen von ‹einem Gott›, der sich ‹im Gesicht des anderen Menschen› offenbart, im ‹Antlitz› jenes Anderen, der einzigartig ist und dessen Sterblichkeit jedermanns Zuwendung erfordert.»

Levinas: «Ethik als Erste Philosophie» erscheint auf Deutsch (2)

Tradition der Tora

Umstandslos wird hier der metaphysische Kontext benannt, der die moralische Sensibilität von Levinas einbindet. Das menschliche Gesicht, als «Antlitz», ist der jüdischen Tradition, namentlich der Tora, geschuldet. Gemäss dem ersten Buch der hebräischen Bibel schuf Gott den Menschen nach «seinem Bilde». Diese Idee ist dem postparadiesischen Geschöpf, das sich auf Erden abmüht, von Anfang an eingeboren. Die daraus entspringende Ethik lautet gemäss Levinas: Wende dich deinem Mitmenschen anteilnehmend zu, denn die Zerbrechlichkeit und die Endlichkeitssorge, wie sie sich im «Antlitz des Anderen» spiegeln, sind Momente der Heilsgeschichte!

Zu beachten bleibt allerdings, dass Levinas die jüdische Tradition der negativen Theologie in Gestalt des sich verbergenden Gottes philosophisch fortschreibt. Auf diese Weise erscheint das Gesicht als eine Evidenz, die sich nicht, wie es die traditionelle Physiognomik versucht, positiv entschlüsseln lässt. Denn das «Antlitz des Anderen», zumal sein lebendiger Blick, lässt uns – darf man das so sagen? – in die Unendlichkeit des göttlichen Seins einsinken.

Die dadurch entstehende Offenheit bildet für Levinas die Basis einer Moral, die keinen starren Pflichtenkatalog kennt, wohl aber die unabschliessbare Bewegung, hin zur Schonung des Mitmenschen, zur geschöpflichen Sympathie. Das Wesen des Menschen ist ebenso göttlich wie todumfangen. Und das Böse? Es zerstört den Blick, das Zentrum des «Antlitzes». Es verdunkelt die Quelle des Menschseins.

Grosses kleines Werk

Hier liegt der Ausgangspunkt jener Ideen, die im Vortrag «Ethik als Erste Philosophie» bündig abgehandelt werden. Dass dabei von den theologischen Evidenzen, welche die philosophischen Begriffe durchdringen, kaum geredet wird, macht den Text nicht leichter lesbar. Verkennt man nämlich die religiöse Energie, die hinter der ethischen Grundlegung wirksam ist, dann könnte der Eindruck argumentativer Willkür entstehen. Im Nachwort des Übersetzers wird darüber geflissentlich hinweggegangen; das ist zu bedauern.

Trotz dieser Beschränkung stellt die vorliegende Übersetzung des Vortrages ein beachtliches Verdienst dar. Wie sonst kaum wo im Werk von Levinas wird für dessen aufmerksame Leserschaft deutlich, was diesen tiefsinnigen und zutiefst humanen Philosophen antrieb – die Fortführung der jüdischen Theologie mit den Mitteln eines Ursprungsdenkens, wie es sich einzig in der deutschen Phänomenologie bei Husserl und Heidegger findet.

Die Ethik als Erste Philosophie erwächst aus der zeitgenössischen Phänomenologie ebenso wie aus der Tiefe der Zeiten. Der visionären Kultur des Judentums nahezustehen, ist zweifellos eine Hilfe, aber nicht unabdingbar, um mit Levinas das Grundproblem der menschlichen Existenz mitzudenken – eben deshalb reiht sich der vorliegende Ethikvortrag akzentsetzend ein in die grossen kleinen Werke der abendländischen Ideentradition.

Emmanuel Levinas: Ethik als Erste Philosophie. Aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Weinberger. Sonderzahl-Verlag, Wien 2022. 96S., Fr. 21.90.

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